Auch wer weiß, was sein Kernkompetenz ist, ist damit nicht auf der sicheren Seite
In einem vorherigen Beitrag schrieb ich, dass die Besinnung auf eine Kernkompetenz eine existenzbedrohende Plattitüde ist – solange man nicht wüsste, auf welche Kompetenz man sich im Detail beziehe. Dabei bleibe ich, denn es ist eine Quintessenz meiner täglichen Arbeit mit Unternehmern. Eine weitere Quintessenz meiner Arbeit geht allerdings über diese (für einige) provokative Beobachtung hinaus.
Denn selbst wenn man weiß, über welche persönliche und professionelle Kernkompetenz man vermeintlich verfügt, ist die eigene Existenz noch lange nicht gesichert. Das mag überraschen. Vor allem, wenn man verkürzt unterstellt, dass Kompetenzen in gewisser Weise Stärken wären und man ferner schlussfolgert, dass der Ausbau seiner Stärken den eigenen Erfolg positiv beeinflussen würde. Lassen Sie uns für einen Augenblick annehmen, Kompetenzen und Stärken wären dasselbe (was sie nicht sind): Dann ist jede Stärke ein Vorteil hinsichtlich der unternehmerischen Existenzsicherung. Der Gedanke dahinter ist einleuchtend: Wer seine Stärken kennt und nutzt, d.h. am Punkt mit der größtmöglichen Hebelwirkung einsetzt, erzielt das bestmögliche Verhältnis zwischen Einsatz und Ertrag. Das klingt plausibel, ist aber dennoch ein gefährlicher Irrglaube.
Warum der beharrliche Glaube an die eigene Kernkompetenz unsinnig ist
Diese Perspektive auf Stärken hat mit den Anforderungen an die meisten Unternehmen – insbesondere in der Buchbranche – nichts zu tun. Warum? Weil sich Stärken und Kompetenzen im Zeitverlauf entwickeln (müssen): Sie werden gebraucht und akkumuliert, sie werden eine „Kernkompetenz“, irgendwann verlieren sie aber auch an Bedeutung, zuletzt werden sie wertlos und … verschwinden doch nicht, obwohl sie nicht mehr gebraucht werden. Das Ergebnis ist klar: Die Kompetenzen und Stärken bleiben, aber der Hebelpunkt, an dem sie sinnvoller und bestmöglicher Weise eingesetzt werden sollten, ist nicht mehr existent.
Sie stehen da, mit allen Stärken und Kompetenzen und sind trotzdem in Ihrer Existenz bedroht. Nun versuchen Sie aus all den akkumulierten und trainierten Stärken und Kompetenzen Ihre ureigene Kernkompetenz herauszudestillieren. Darauf konzentrieren Sie Ihre Kräfte – und scheitern.
Dies liegt vor allem daran, dass bei einer Rückbesinnung auf eine wie auch immer geartete „Kernkompetenz“ die Entwicklung von notwendigen, anderen Kompetenzen für die Gegenwart und Zukunft auf der Strecke bleibt. Die Ressourcen sind schließlich endlich, man kann nicht alles auf einmal machen und (seien wir ehrlich) bestimmte Dinge möchte man auch einfach nicht. Das ist kein Problem, solange man die Verantwortung für die Konsequenzen tragen möchte (und kann). Zum Problem wird diese Einstellung – und wir haben es hier mit einem Einstellungsproblem zu tun – in dem Augenblick, wo die Umweltdynamik einen Fortschritt verlangt, der leitende Kopf des Unternehmens aber mit Rückzug und Abwehr reagiert.
Wachstumshürden müssen genommen werden. Aber was wartet dahinter?
Das passiert bei kleineren Unternehmen, und solche Unternehmen kennzeichnen die Branche und meine Kunden, die eine typische Wachstumshürde überspringen müssen. Gemeint ist die notwendige Implementierung einer ersten oder zweiten Führungsebene. Diese Hürden entstehen zwar aus dem Erfolg eines Unternehmens heraus, aber genau das macht die Hürden so schwierig zu überwinden. Bestimmte Kompetenzen und Stärken wurden bis zu diesem Zeitpunkt von allen Beteiligten mit der bestmöglichen Hebelwirkung eingesetzt: Das führte zum Erfolg.
Aber nun trennen sich die Wege: Denn wo vorher noch alle nebeneinander standen, tritt einer aus der Mitte hervor und steht als Mitglied der Führungsebene – ob er es will oder nicht – plötzlich über den anderen. Egal, wie flach die Hierarchien sind, aus dem „nebeneinander“ ist ein „übereinander“ geworden und ein Fortschritt, eine Entwicklung der Kompetenzen und Stärken von mindestens dieser einen Person ist essenziell für den weiteren Fortschritt des gesamten Unternehmens.
Es ist nicht das unternehmerische Paradies, es ist nur ein Ort mit anderen Problemen
Nun wartet nach dem Überspringen der Wachstumshürde natürlich nicht das unternehmerische Paradies auf Mitarbeiter und Führungskräfte, nein: Je höher man aufsteigt umso dünner wird die Luft. Das bedeutet, dass neue Herausforderungen hinzu kommen. Außerdem sind andere Probleme zu lösen und dementsprechend tauchen andere Ursachen für existenzbedrohende Probleme im Unternehmen auf.
Was denken Sie? Was passiert, wenn die für die Überwindung dieser Schwierigkeiten ausgewählte Person sich auf seine eigenen Kernkompetenzen der Vergangenheit besinnt? Wird damit irgendein Problem – das mit seinen eigenen Kernkompetenzen nichts zu tun hat – gelöst oder wird dadurch nicht vielmehr jedes Problem lediglich verschärft?
Die Rückbesinnung eines Einzelnen oder einer Gruppe auf das, was das Unternehmen erfolgreich gemacht hat, ist weitverbreitet. Es ist an vielen Stellen der Unternehmensentwicklung auch intuitiv richtig, nichtsdestotrotz ist es grundfalsch. Denn die meisten Probleme in Unternehmen entstehen nicht dadurch, dass Unternehmen von einem erfolgversprechenden Weg abweichen. Sie entstehen einfach dadurch, dass die Unternehmen diesen Weg gehen. Das ist ein himmelweiter Unterschied, der gewaltige Auswirkungen auf das Unternehmen als Organisation, dessen Prioritäten und Aktionen hat. Solche „produktiven Probleme“ sollte man gezielt suchen und lösen.
Intuitiv richtig gehandelt, aber trotzdem grundfalsch gelegen
Beispiele aus der Praxis kennen Sie als Leser zur Genüge: Da ist der Gründer einer Buchhandlung, seine Kernkompetenz ist die Beratung. Mit dieser Kompetenz schafft er eine Stärke: einen hohen Tagesumsatz. Dieser ist die Ursache für eine Wirkung, nämlich dem Auftauchen einer Wachstumshürde. Diese Hürde wird genommen und neue, andere Schwierigkeiten kommen auf das Unternehmen zu. Diese Schwierigkeiten sind nichts anderes als Stolpersteine auf dem Weg zum Ziel. Der Buchhändler stolpert und strauchelt, aus einstiger Zuversicht wird Angst, auf Angst folgt Rückzug. Der vormals richtige Weg scheint plötzlich der falsche zu sein. Wenn sich der ambitionierte Unternehmer nun auf seine Kernkompetenz, die Beratung, konzentriert setzt er eine Abwärtsspirale – vor der er sich bis dato angesichts der Schwierigkeiten lediglich fürchtete – unwiderruflich in Gang. Er geht den Weg zum Erfolg buchstäblich rückwärts. Beim Erfolg wird er so nicht ankommen.
Jede Minute, die er sich von nun als Unternehmer, d.h. als Kopf des Unternehmens, mit der Beratung beschäftigt, fehlt dem Unternehmen und Unternehmer für die Lösung der eigentlichen Probleme und vor allem bei der Aneignung der zur Lösung notwendigen Kompetenzen. Wir sind hier wieder bei der Unterscheidung zwischen Fachkraft-, Manager- und Unternehmeraufgaben. Wo der Unternehmer vor dem Überschreiten der Wachstumshürde Fachkraftaufgaben ausgeführt hat (beraten, um zu verkaufen), die Ausführung der Fachkraftaufgaben sogar eine zwingende Voraussetzung für das Erscheinen der Wachstumshürde war, ist es nun anders.
Es gibt keinen Weg zurück, und wenn doch: Dann ist er falsch!
Er hat vermehrt und vorrangig Manager- und Unternehmeraufgaben zu erledigen. Die Kompetenzen einer Fachkraft helfen hier aber schlichtweg nicht weiter, da der Hebelpunkt zum sinnvollen Einsatz der Beratung fehlt. Beratung ist die Kernkompetenz eines Verkäufers, aber ganz sicher nicht die eines Unternehmers! Dabei ist es irrelevant, ob diese Entwicklung die persönlichen Präferenzen des Unternehmers befriedigt oder nicht. Natürlich will er beraten, das ist seine aktuelle und liebgewonnene Kernkompetenz. Aber er darf sich dann nicht wundern, wenn niemand anderes seine(!) Unternehmeraufgaben übernimmt:
- die Entwicklung von Visionen und Werten
- die Strategie und Positionierung
- das unternehmerische Wachstum
- die Umsetzungssicherung
- die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit.
Niemand tut das, was an dieser Stelle eigentlich notwendig wäre. Und wenn das niemand tut, darf sich niemand wundern, wenn Erfolg zu Misserfolg wird und Unternehmer und Unternehmen letztlich scheitern.
Niemand kann und darf ihm, dem Unternehmer, diese Aufgaben abnehmen: Es sind seine ureigenen (Unternehmer-)Aufgaben geworden; und zwar in dem Augenblick, als er beschloss Unternehmer zu werden.
Die Besinnung auf eine Kernkompetenz kann deshalb sogar dann existenzbedrohend sein, wenn man weiß, auf welche Kompetenz man sich im Detail bezieht. Kompetenzen lösen schließlich bestimmte Probleme. Diese Probleme entstehen allerdings erst in bestimmten Zusammenhängen, in bestimmten Umgebungen. Dementsprechend entstehen in anderen Umgebungen – „übereinander“ statt „nebeneinander“ – andere Probleme. Dafür wiederum braucht man andere Kompetenzen. Und die entwickelt man entgegen aller Hoffnung nicht en passant.
Dieser Beitrag erschien in abgewandelter Form im BuchMarkt Magazin, Ausgabe 09/2020.
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