Mehr Schein als Sein
Kennen Sie auch diese prunkvollen Häuser, bei deren Anblick man unweigerlich an vergangene, meist bessere Zeiten denkt? Häuser, bei denen man sich sofort vorstellt wie es wäre, durch deren Räume zu schlendern und dem sich darin – zweifelsohne – entfaltenden Zauber nachzuspüren? Eine herrliche Vorstellung!
Die Realität ist bei näherem Hinsehen oftmals eine herbe Enttäuschung. Die vermeintlich prunkvollen Häuser haben lediglich hübsch restaurierte Fassaden, die Innenräume sind kalt und zugig. Das zauberhafte Odeur der besseren Vergangenheit entpuppt sich als festsitzender Muff des Überkommenen. Zu schnell hat man von der Außenansicht auf die Zustände im Inneren geschlossen.
Der erste Blick ist kurz, der zweite Blick bleibt hängen
So wartete ich neulich in der Lobby eines lokalhistorisch bekannten Grand Hotels auf einen der dortigen Gäste. Bis dato hatte ich zwar stets den Wunsch, aber nie die Gelegenheit gehabt hineinzugehen, um mich wenigstens für ein paar Minuten vom Pathos des Prachtbaus umhüllen zu lassen. Nun war die Zeit gekommen und voller Vorfreude sowie ausgeprägter Erwartungshaltung trat ich ein. Ich setzte mich zwischen Kronleuchtern und Mahagoni-Wandschränken in einen der schweren Ledersessel.
Je länger ich dort saß umso unwohler wurde mir, eine gewisse Nervosität beschlich mich. Irgendetwas schien nicht zu stimmen. Aber was? Ich sah genauer hin und es fiel mir wie Schuppen von den Augen: Nicht etwas Bestimmtes stimmte nicht, nein: der Gesamteindruck stimmte nicht. Die Kronleuchter voll blinder Birnen, die Wandschränke teils abgewetzt, die Ledersessel abgesessen. Ich saß in einem Ensemble von Objekten, dessen Vergangenheit von der Gegenwart aufgezehrt worden war. Große und kleine Details, von quietschenden Fahrstuhltüren bis hin zu schiefen Steckdosenleisten; alles schien darauf angelegt, meine Vorstellung von diesem Hotel zu enttäuschen. Meine herrliche Vorstellung entpuppte sich letztlich als genau das, eine einfache Vorstellung.
Aufmerksamkeit hat nichts mit Pedanterie zu tun…
Wo ist nun das Problem dabei? Man könnte schließlich argumentieren ich sei einfach ein Pedant, der seine Déformation professionelle in die Lobby des Hotels hineingetragen hätte. Aber nein, das ist nicht das Problem. Hörbare Äußerungen anderer Gäste am Nebentisch während des Mittagessens bestätigten, dass auch diese mit derselben Vorstellung wie ich erstmalig gekommen waren. Wiederkommen aber würden sie nicht. Das ist das Problem.
Die Vorstellung der Gäste vom Hotel auf der einen Seite und die Wirklichkeit im Hotel auf der anderen Seite klafften ganz offensichtlich weit auseinander. Nun könnte man einwenden, dass das eben so wäre, gemäß des destruktiven Sinnspruchs: „Wo gehobelt wird, da fallen Späne“. Man könne schließlich nicht immer alles sofort bemerken und permanent neue Glühlampen, Wandschränke und Ledersessel besorgen. Das sei eben die Wirklichkeit in einem Hotel, daran nage nun mal der Zahn der Zeit. Wenn dieses Faktum unumstößlich, warum sollte man daraus ein Problem ableiten?
Das ableitbare Problem ist, dass das Hotel von den Vorstellungen seiner Gäste lebt, die Gäste buchen aufgrund ihrer Vorstellungen ja überhaupt erst das Hotel: Deren Vorstellung ist mitnichten, dass die Zeit spurlos am Hotel vorbeigeht. So naiv ist niemand. Aber wenn schon Zeit vergeht, dann soll das Patina erzeugen und nicht von Verfall zeugen. Deshalb geht es darum, den Vorstellungen des Gastes mit allen Anstrengungen gerecht zu werden. Dies ist schließlich die Grundlage für die Zahlungsbereitschaft der Gäste und unterscheidet gute von schlechten sowie erfolgreiche von erfolglosen Hotels.
Was hat das alles mit einer Buchhandlung zu tun?
Diese Bedingungen und Abhängigkeiten lassen sich vielfach auf Unternehmen mit stationären Verkaufsstellen übertragen, auch auf Buchhandlungen. Dies ist nicht etwa deshalb möglich, weil Hotels und Buchhandlungen vergleichbare Leistungen anbieten, sondern weil Hotels und Buchhandlungen für ihren wirtschaftlichen Erfolg die Vorstellungen ihrer Gäste und Kunden bestmöglich befriedigen müssen. Alle Hotels und Buchhandlungen, die in irgendeiner Art mit ihrer „Atmosphäre“, ihrem „Zauber“, ihrer „Erlebniswelt“ werben lassen sich damit zwangsläufig auf das Spiel mit den Erwartungen und Vorstellungen ein. Dieses Spiel ist schwer zu gewinnen und ist leicht zu verlieren.
Auf das Hotelbeispiel bezogen bedeutet das, dass das Hotel zwar alt wirken soll, aber keinesfalls alt sein darf. Der Gast verlangt damit gewissermaßen die Quadratur des Kreises, denn er verlangt damit (aus Sicht des Hoteliers) Investitionen und Anstrengungen in zwei Richtungen: in Erhaltungs- wie auch Modernisierungsmaßnahmen. Er soll eine Scheinwelt kreieren, die den Vorstellungen der Gäste bestmöglich entspricht: Bleiben die einen wie auch die anderen Investitionen aus, driften Vorstellung und Wirklichkeit, oder anders gesagt die Erwartungshaltung des Gastes und die Fähigkeit des Hotels, diese Erwartungen zu befriedigen, immer weiter auseinander.
Je weiter diese im Zeitverlauf auseinanderdriften, umso schwieriger wird es wiederum, mittel- und langfristig den notwendigen Geschäftserfolg zur Verkleinerung dieser Kluft erneut zu realisieren. Das ist dann der Zeitpunkt, in dem man einem Hotel, aber auch einer Buchhandlung zu attestieren beginnt, das Geschäft lebe nur noch von seinem Ruf und seiner Tradition. Das heißt, die Gäste kommen ein einziges Mal, aber kein zweites. Allzu lange kann das nicht gut gehen, denn dann befindet man sich bereits in einer Abwärtsspirale. Diesen Eindruck gewinnt man in zahlreichen Buchhandlungen, vor allem „Traditionsbuchhandlungen“.
Schon einfachste Monitoring-Maßnahmen unterbleiben meistens…
Wie kann man diesem Prozess entgegenwirken? Dazu gibt es zwei Möglichkeiten, von denen Sie die erstgenannte immer wieder antreffen, die zweite fast nie. Dabei sollte es genau andersherum sein. Zum einen könnte man immer wieder die überhypte Allzweckwaffe des „Relaunch“ einsetzen. Diese ist aber für Unternehmen, die mit ihrer Atmosphäre, ihrem Zauber, werben wollen nicht praktikabel; jeder Relaunch bedroht die Verbindung von Vergangenheit und Zukunft.
Zum anderen – und dies ist die Grundvoraussetzung für die Quadratur des Kreises – bietet sich ein permanentes, strukturiertes Monitoring von Soll- und Ist-Zustand an. Probleme und Potenziale werden systematisch erfasst, analysiert und gemäß Ressourcen priorisiert. Die systematische Erfassung bietet den unschlagbaren Vorteil, dass nicht die aus Unternehmensperspektive offensichtlichsten, sondern die aus Kundenperspektive wichtigsten Verbesserungsmöglichkeiten ausgelotet werden. Denn diese sind keinesfalls identisch.
Ein qualitativ hochwertiges, permanent funktionsfähiges Monitoring der eigenen Verkaufsräume ist nicht teuer. Es braucht allerdings Zeit und setzt eine gewisse Offenheit, Kritikfähigkeit sowie Weitsicht der Beteiligten voraus. Außerdem braucht es eine durchgehende Trennung zwischen Sach- und Beziehungsebene. Falls diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind, bleibt ernstgemeintes Monitoring sinnfrei. Bereits einfachste Instrumente wie Checklisten, To-Do-Listen und fixe Budgetrückstellungen auf Monatsbasis können einen Modernisierungsstau und die für dessen Beseitigung notwendigen Einmalinvestitionen wirkungsvoll verhindern.
Der Verkaufsraum ist immer auch ein Show-Room!
Bleibt nur noch ein kurzer, aber dafür sehr wichtiger Punkt. Wenn ihr Verkaufsraum für Sie als (Traditions-)Buchhändler das wichtigste Instrument zur Erfüllung der Kundenvorstellungen ist: Wie identifizieren Sie als Buchhändler die aus Kundensicht wichtigsten Verbesserungspotenziale sowie Defizite ihrer eigenen Verkaufsräume? Stichwort „Betriebsblindheit“… Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, die sich an den Kunden, Räumlichkeiten etc. orientieren. Für den Anfang reicht ein Stapel roter Klebezettel sowie eine Stunde Zeit. Sie und alle Ihre Mitarbeiter gehen einzeln durch alle Geschäftsräume und kleben diese Zettel mit einer kurzen Anmerkung versehen an alle Orte und auf alle Gegenstände, die ausgebessert und verbessert gehören. Sie tun dies vollkommen unvoreingenommen, d.h. losgelöst von Budget- und Zeitfragen. Sammeln und systematisieren Sie die Ergebnisse sowie erste Lösungsansätze. Kontrastieren Sie Probleme und Lösungen mit der Erwartungshaltung Ihrer Kunden. Spannen Sie im nächsten Schritt Ihre Kunden ein, nutzen Sie Ihre Buchhändlerkollegen zum Ausloten der Möglichkeiten, konsultieren Sie externe und unvoreingenommene Personen.
In guten Hotels gibt es diesen Tag der Klebezettel übrigens mindestens jedes Quartal. Deshalb gibt es in diesen Hotels bestimmte Dinge nicht: bspw. kaputte Birnen in Kronleuchtern, quietschende Aufzugtüren und kaputte Steckdosenleisten. Denn so wenig wie Buchhandlungen Bücher verkaufen, verkaufen diese Hotels einfach Betten.
Dieser Beitrag erschien in abgewandelter Form im BuchMarkt Magazin, Ausgabe 12/2020.
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