Vom Sinn und Unsinn des Entscheidens
An jedem Tag, in jeder Stunde und jeder Minute, ja sogar in Bruchteilen von Sekunden treffen Menschen Entscheidungen. Den größten Teil dieser Entscheidungen trifft unser System 1, schlichtweg, weil unser System 2 mit der schieren Menge an Entscheidungen vollkommen überfordert wäre. Das System 2 trifft deshalb mengenmäßig nur den geringsten Teil der Entscheidungen. Diese sind dann aber von umso größerer Tragweite, weshalb wir umso mehr Energie in diese Entscheidungen investieren. Über manche Dinge denken wir tagelang nach, wägen ab und beurteilen Konsequenzen – nur um letztlich aufgrund des weitverbreiteten Rückschaufehlers zur Erkenntnis zu kommen, dass diese Entscheidung trotzdem falsch war. Jeder kennt solche Entscheidungen und ihre leidvollen Folgen aus eigener Erfahrung.
Wenn also Ihr System 1 für die Entscheidung zuständig ist, ob Ihr Durst groß genug ist, um den Weg zum Kühlschrank auf sich zu nehmen, wird die Entscheidung für eine geeignete Altersvorsorge, ein neues Auto oder einen passenden Weißwein zum Fisch durch Ihr System 2 getroffen. Warum? Wir erinnern uns: „System 2 lenkt die Aufmerksamkeit auf die anstrengenden mentalen Aktivitäten […] Die Operationen von System 2 gehen oftmals mit dem subjektiven Erleben von Handlungsmacht, Entscheidungsfreiheit und Konzentration einher.“ Diese drei Dinge erleben Sie vermutlich, wenn Sie sich für eine Altersvorsorge, ein Auto oder einen Wein entscheiden, aber vermutlich nicht, wenn Sie zum Kühlschrank gehen.
Die Illusion der Entscheidungsfreiheit
Nun gibt es aber beim Treffen von Entscheidungen zahlreiche Probleme, von denen 1. einige Probleme speziell mit unserem vollkommen überschätzten Selbstbild zu tun haben und von denen 2. andere Probleme mit dem generellen Wesen von Entscheidungen zusammenhängen.
Zum Selbstbild: Selbst, wenn sich die meisten Leser in der geistigen Nachfolge des Homo oeconomicus sehen, sich also als rational-ökonomisch handelnde Individuen verstehen, ist dieses Selbstbild dennoch falsch. Ein Großteil der vermeintlich reflektierten System 2-Entscheidungen sind nichts anderes als nachträglich mit Erklärungen versehene System 1-Entscheidungen. Ein Großteil aller Autokäufer kauft ein Auto zwar (initial) wegen der Farbe, aber zugeben wird das niemand. Weil es auch niemand zugeben kann: Die Käufer des Autos erklären die Entscheidung für ein bestimmtes Modell schließlich mit vernünftigen Argumenten: Spritverbrauch, Kofferraumvolumen und Sicherheitsfeatures. Die Käufer müssen den Kauf des Autos sogar mit solchen Argumenten im Nachhinein legitimieren, eben weil sie wirklich glauben, dass sie von den genannten Argumenten, keinesfalls aber von der Farbe überzeugt gewesen wären.
Entscheidungsparalyse des Homo oeconomicus? Unmöglich!
Hier spielt das Phänomen der Entscheidungsparalyse eine entscheidende Rolle. Denn auch wenn sich der Homo oeconomicus als rational-ökonomisches Wesen begreift, das alle zur Verfügung stehenden Informationen sammelt, ordnet und auswertet; so ist er dennoch keinesfalls in der Lage, alle Informationen bei der Entscheidungsfindung konsequent zu berücksichtigen. Es sind einfach viel zu viele Informationen. Deshalb priorisiert er bestimmte – um im Beispiel des Autokaufs zu bleiben – Ausstattungsmerkmale eines potenziellen Neufahrzeugs p. Es gibt bspw. gewisse Must-Haves. Damit lichten sich die Reihen bereits deutlich. Hinzu kommen optionale Merkmale, feinsäuberlich priorisiert nach Wichtigkeit. Einschränkend wirkt hier außerdem eine Aufpreisliste, aber auch Sonderausstattungen im Paket über etwaige, vom Hersteller vorkonfigurierte (Sonder-)Editionen. Es stehen ungezählte Kombinationsmöglichkeiten zur Verfügung, und selbst wenn man sich das perfekte Fahrzeug konfigurieren könnte, stehen dem Kauf Budgetentscheidungen oder Lieferfristen im Weg.
Was ist das dahinterstehende Muster?
Das Muster hinter allen zu treffenden Entscheidungen beim Autokauf folgt dem Ziel der Komplexitätsreduktion: Komplexe Zusammenhänge werden damit handhabbar. Dafür muss die Komplexität reduziert werden. Dafür wiederum müssen Informationen nicht gesammelt, geordnet und ausgewertet werden – das würde das Systems 2 tun. Nein, dafür muss ein Großteil der zur Verfügung stehenden Informationen von System 1 als irrelevant kategorisiert werden. Sie spielen bei der Entscheidungsfindung keine Rolle. Andere Informationen hingegen, die vom System 2 als irrelevant kategorisiert werden – wer kauft schon ein Auto wegen der Farbe? –, werden von System 1 sehr wohl als relevant und prioritär kategorisiert. Form und Farbe, Geruch und Haptik, Emotion und Gefühl stehen bei der Kaufentscheidung unbewusst im Fokus. Dieser Befund steht in offenkundigem Gegensatz zum überschätzten Selbstbild des Homo oeconomicus.
Komplexitätsreduktion ist immer das Ziel
Diese hier skizzierte Art der Entscheidungsfindung trifft aber nicht nur auf Großkäufe oder -investitionen zu. Auch im kleineren Maßstab finden sich die entsprechenden Muster: Spätestens, wenn man beim Einkaufen – und sei es nur hin und wieder, wie viele Leser einwenden werden – einer bestimmten Marke den Vorzug vor einer anderen gibt, Dinge kauft, die man nicht braucht oder auch bestimmte Einkaufsorte meidet; System 1 hat entschieden. Man war mit der Vielzahl an Entscheidungsmöglichkeiten überfordert, eine Entscheidungsparalyse tritt ein, und Ihr System 1 springt Ihnen bei der Komplexitätsreduktion und Entscheidungsfindung bei.
Die Vielzahl an Möglichkeiten wird so lange reduziert, bis sich die Entscheidungsparalyse auflöst. Wenn ich nur noch die Wahl zwischen zwei vollkommen austauschbaren Müslisorten habe und mich nicht mehr zwischen 20 vollkommen austauschbaren Müslisorten entscheiden muss – dann kann ich bei dieser Kaufentscheidung vermeintlich rational-ökonomische Maßstäbe anlegen. Wo System 1 über die Farbgestaltung der Verpackung bereits 18 Müslisorten aussortierte, kann nun Ihr System 2 nach besseren Zutaten, einem besseren Preis-Leistungs-Verhältnis oder auch der biologischen Abbaubarkeit der Produktverpackung suchen.
Was ist überhaupt eine Entscheidung?
Hinzu kommt ein ausgeprägtes Missverständnis davon, was eine Entscheidung überhaupt ist. Ein Großteil der Entscheidungen, die wir mit Hilfe unseres Systems 2 zu treffen glauben, sind bei Licht besehen keine Entscheidungen zwischen wenigstens zwei Alternativen. Wir entscheiden lediglich zwischen einem „Ja“ oder einem „Nein“ für oder gegen eine Handlung.
Was ist damit gemeint? Es geht um die Frage nach der zur Verfügung stehenden Datenbasis, auf deren Grundlage Entscheidungen getroffen werden sollen. Diese Grundlage ist allerdings in 99% der Fälle völlig unzureichend, genauer gesagt existiert überhaupt keine Datenbasis. Sie als Leser werden nun einwenden, dass immer irgendeine Art von Datenbasis existieren würde, aber dem möchte ich entschieden widersprechen.
Vergegenwärtigen Sie sich folgende Situation: Sie sitzen in einer Besprechung mit Ihren Mitarbeitern und einigen Ihrer Vorgesetzten. Das Meeting ist angesetzt, um endlich Nägel mit Köpfen zu machen. Mit anderen Worten: Ziel ist es, die Entscheidungsparalyse aufzulösen. Es steht also die Frage zur Debatte, ob das Projekt XY in der ausgearbeiteten Form angegangen werden soll. Die Entscheidung, die es zu treffen gilt, ist somit eine klassische Ja-/Nein-Entscheidung. Im Gegenzug ist sie aber ihrem Wesen nach keine Entscheidung zwischen verschiedenen Alternativen. Der Unterschied zwischen diesen Entscheidungskategorien ist kein rein akademischer, nein, der Unterschied ist von entscheidender Bedeutung für den Unternehmenserfolg.
Die Gretchenfrage der Entscheidungsfindung
Die der Entscheidungsfindung vorzuschaltende Frage ist nämlich eine andere. „Warum wird in diesem Meeting über eine Entscheidung gesprochen, zu der es keine Alternativen gibt?“ Die Antwort ist niederschmetternd und lässt die Beteiligten, vor allem aber die Entscheidungs(!)träger, in keinem guten Licht erscheinen.
Es gibt keine Alternativen, weil diese vorher aufgrund der oben genannten Bedingungen und Schwierigkeiten der Entscheidungsparalyse als irrelevant abgetan wurden. Wenn ein Entscheidungsbefugter – vollkommen losgelöst von der Sinnhaftigkeit der Entscheidung – beschließt, dass über etwaige Alternativen nicht diskutiert wird, dann gibt es im darauffolgenden Meeting logischerweise keine Entscheidungen mehr zu treffen. Was es hingegen in diesem Meeting gibt, ist die Möglichkeit, sich als Beschleuniger des Beschlossenen zu positionieren und – vielleicht auch wider besseren Wissens – heraus zu posaunen, dass man das Projekt durchziehen solle. Dabei meint man schlichtweg, dass es besser ist, dieses spezielle Projekt durchzuziehen, statt überhaupt keines zu verwirklichen. Denn es stand keine Alternative zur Debatte!
Das bedeutet, dass ein Großteil der vermeintlichen Entscheidungen, die in Organisationen zu treffen sind, nicht als tatsächliche Entscheidungen getroffen werden. Es werden lediglich Alternativen zwecks Komplexitätsreduktion sukzessive vor dem eigentlichen Entscheidungsprozess eliminiert. Das ist ein Fehler! Ich beobachte das häufig während meiner Tätigkeit als Unternehmensberater, aber auch die Verhaltensökonomik erklärt dieses Phänomen mittels Entscheidungsparalyse und Komplexitätsreduktion.
Lange Rede, kurzer Sinn
Warum aber sollte uns das überhaupt interessieren? Weil die Qualität unserer Entscheidungen maßgeblichen Einfluss auf die Qualität unseres Lebens hat. Eine dumme Entscheidung hat meist unangenehme Folgen, eine kluge Entscheidung meist angenehmere Folgen. Wenn man versteht, wie Entscheidungen – vor allem die unklugen mit unangenehmen Folgen – zustande kommen, ist das vorteilhaft. Man kann man bereits im Vorfeld der Entscheidung, in der Phase der Entscheidungsfindung, wichtige Weichen stellen, Fehler vermeiden und zuletzt auch voraussehbar falsche Entscheidungen anderer für sich nutzen. Das mag für einige unmoralisch klingen, macht sich aber lediglich das zu Nutze, was die Werbung seit Hunderten von Jahren tut. Man berücksichtigt die Tatsache, dass der Mensch keine rationalen und vor allem konsistenten Entscheidungen trifft.
Der Above-Average-Effekt
Unternehmen treffen auf allen Ebenen tagtäglich tausende von vermeintlichen System 2-Entscheidungen mit teils weitreichenden Folgen. Es beginnt bei der Entscheidung für bestimmte Büroausstattungen, von Kugelschreibern bis hin zu ergonomischen Sitzgelegenheiten. Es geht weiter über die Gestaltung der Arbeits- und Pausenzeiten bis hin zur strategischen Ausrichtung und Positionierung des Gesamtunternehmens. Wenn man außerdem anerkennt, dass die Farbe der Kugelschreiber und Bürostühle, die Sympathie für bestimmte Kollegen und die Überforderung durch Überinformation zu all diesen Entscheidungen – mitsamt ihren Folgen – führen, leuchtet unmittelbar ein, warum die Grundlagen des Entscheidungsverhaltens ein wirksamer Hebel für den Unternehmenserfolg sind. Wenn bspw. ein Vorgesetzter im Vorfeld des Meetings Alternativen verwirft, weil diese von bestimmten Personen eingebracht worden sind und der Vorgesetzte gleichzeitig denkt, eine rationale System 2-Entscheidung getroffen zu haben, dann hat man ein Problem.
So oder so: Es lohnt sich, einen entscheidungsfokussierten Blick auf das eigene Unternehmen, die Mitarbeiter und sich selbst zu werfen und sich zu fragen, ob man – gefragt nach der Qualität und der Grundlage der eigenen Entscheidungen – nicht dem Above-Average-Effekt auf den Leim geht. Denn gute Entscheidungen sind insbesondere dann mit Vorsicht zu genießen, wenn wir besonders schnell zu ihnen kommen…
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