Das Denken in zwei Systemen: Kahnemans Schnelles Denken und Langsames Denken
Die Verhaltensökonomie ist unbestritten ein extrem nützliches Instrument bei der späteren Beurteilung. Aber ebenso hilfreich bei der vorherigen Strukturierung und Durchführung von unternehmerischen Prozessen. Dies wurde bereits in der gebotenen Kürze in unserem ersten Beitrag der Serie dargelegt.
Trotzdem: Vor allem, weil es ein essenzieller Bestandteil unserer Arbeitsweise bei Notum Analytica ist, möchten wir ein paar der Kernelemente und -annahmen der Verhaltensökonomie vorstellen und beleuchten. Insbesondere, weil viele der grundlegenden Annahmen der Verhaltensökonomie nicht der subjektiven sowie individuellen Wahrnehmung entsprechen, ist Aufklärung dringend geboten. Diese Aufklärung dient allerdings nicht der Belehrung, sondern der Schaffung von Akzeptanz für ihre genutzten Methoden der Wissensgenerierung. Denn weder die Verhaltensökonomie als Wissenschaft noch unsere Unternehmensberatung als Dienstleistung verstehen sich als übergeordnete Instanzen. Sie sind vielmehr beigeordnete Instrumente zur Setzung und Erreichung von spezifischen, auch unternehmerischen Zielen unter bestimmten Voraussetzungen. Weder die Verhaltensökonomie noch Notum Analytica möchten in irgendeiner Hinsicht über „Herrschaftswissen“ verfügen; es soll nicht zur Wahrung irgendeines individuellen Vorteils behalten, sondern zur Verwirklichung kollektiver Vorteile geteilt werden.
Dazu sollen die folgenden Ausführungen ihren Beitrag leisten.
Die Müller-Lyer-Illusion verdeutlicht unsere Fehleranfälligkeit
Eine der zentralen Annahmen der Verhaltensökonomie ist, dass unsere Fehler – d.h. Fehler, die sich aus der Beurteilung eines Sachverhalts durch Menschen ergeben – und deren Folgen bestimmten charakteristischen Mustern folgen. Eine (selbstgestellte) Aufgabe der Verhaltensökonomie ist es deshalb, diese charakteristischen Muster zu identifizieren, zu systematisieren und zu analysieren. Zweck dieses umfassenden Prozesses ist nicht ausschließlich die Beantwortung der Frage, warum Menschen häufig derart leichtfertig schwerwiegende Fehler machen, sondern vor allem die Frage, wie sich dieser Prozess zukünftig in konstruktive Bahnen lenken lässt.
Vor allem Unternehmen, die in vielfältiger Weise auf die Entscheidungen von Menschen angewiesen sind um überhaupt zu funktionieren, möchten verstehen, warum diese Menschen – Mitarbeiter, Manager, Führungskräfte, Firmeneigentümer etc. – entsprechende Fehler machen. Da diese genannten Gruppen das Rückgrat eines jeden Unternehmens sind können große, aber auch kleine Fehler zu ernsthaften Problemen führen. Diese haben unter Umständen kaum zu überblickende, im schlimmsten Fall nicht mehr zu korrigierende Folgen.
Betrachten wir dazu ein bekanntes Beispiel, die Müller-Lyer-Illusion:
Man sieht nur, was man sehen kann.
Für diejenigen unter Ihnen, die diese Abbildung nicht kennen – aber auch für diejenigen, die sie kennen – wirken die Striche zwischen den ein- bzw. auswärts weisenden Pfeilenden unterschiedlich lang. Die obere Linie scheint eindeutig länger zu sein als die untere. Wie Sie als aufmerksamer Leser aber dem Wort „Illusion“ entnommen haben, ist das nicht der Fall: Beide Striche zwischen den jeweiligen Pfeilenden sind gleich lang. Messen Sie es gerne nach.
Worum es hier geht ist allerdings nicht der reine Verblüffungsfaktor, keine Effekthascherei oder Ähnliches. Es geht um die verhaltensökonomisch relevanten Beobachtungen und Schlussfolgerungen: Denn ob Sie zur Gruppe derjenigen gehören, die die Müller-Lyer-Illusion kennen, oder zur Gruppe derjenigen, die sie nicht kennen, Sie haben eines gemeinsam: Der Eindruck, den die Abbildung vermittelt stimmt momentan nicht mit Ihrem Wissen über diese Abbildung überein. Es erfordert bei jeder erneuten Betrachtung der Abbildung eine große Anstrengung Ihrerseits um die Differenz zwischen Ihrer Wahrnehmung und Ihrem Wissen zu überbrücken. Sie sehen, dass die Striche unterschiedlich lang sind, aber Sie wissen, dass das nicht der Fall ist.
Das ist insofern erstaunlich, weil Sie lediglich über ein Gehirn verfügen, in dem sowohl Sehreize als auch das Wissen über Sehreize verarbeitet werden. Wenn zwei Dinge an einem Ort unterschiedlich verarbeitet werden, muss es also eine Differenz zwischen den Dingen geben. Wenn hingegen, wie im vorliegenden Fall, die gleiche Information am gleichen Verarbeitungsort unterschiedlich verarbeitet wird, muss es an diesem Ort zwei unterschiedliche Verarbeitungssysteme geben. Das ist entscheidend für die Verhaltensökonomie.
Zwei Systeme: Schnelles Denken, langsames Denken
Das gleichzeitige Vorhandensein zweier unterschiedlich arbeitender kognitiver Systeme wird in den anschließenden Beiträgen immer wieder zur Sprache kommen, weshalb wir an dieser Stelle die Spezifika dieser beiden Systeme sowie ihre grundlegende Funktionsweise skizzieren wollen. Daniel Kahneman, seinerseits Psychologe und Wirtschaftsnobelpreisträger, ordnet diese beiden Systeme folgendermaßen zu: „System 1 arbeitet automatisch und schnell, weitgehend mühelos und ohne willentliche Steuerung. System 2 lenkt die Aufmerksamkeit auf die anstrengenden mentalen Aktivitäten […] Die Operationen von System 2 gehen oftmals mit dem subjektiven Erleben von Handlungsmacht, Entscheidungsfreiheit und Konzentration einher.“ Die Systeme repräsentieren somit, vereinfacht formuliert, das schnelle Denken (System 1) und das langsame Denken (System 2). Bei der Betrachtung und Analyse der Müller-Lyer-Illusion können Sie beide Systeme bei der Arbeit beobachten…
Während Ihr System 1 bei der ersten Betrachtung (streng genommen sogar bei jeder weiteren) die Führung bei der Beurteilung der Striche übernimmt – also „automatisch und schnell, weitgehend mühelos und ohne willentliche Steuerung“ arbeitet – müssen Sie Ihr System 2 aktiv für die Überprüfung der Strichlänge heranziehen. Ohne Ihr Wissen über die Länge der Striche, aber auch ohne Nutzung etwaiger Hilfsmittel (wie etwa einem Lineal) sind Sie eigentlich nicht in der Lage eine reflektierte, richtige Aussage über die Strichlängen in der Müller-Lyer-Illusion zu treffen.
Nichtsdestotrotz möchte Ihr automatisches, schnelles System 1 bei jeder Betrachtung der obenstehenden Abbildung eine Aussage treffen: Nämlich die, dass die Striche nicht gleich lang sind, sondern der obere länger als der untere wäre. Wenn man Sie also vor die Aufgabe stellt, die Länge der Striche zu beurteilen werden Sie immer zuerst sagen wollen, dass sie unterschiedlich lang sind (System 1), es aber nicht sagen, weil Sie wissen, dass sie gleich lang sind (System 2).
Wieso drängt sich aber System 1 – obwohl es automatisch, schnell und ohne willentliche Anstrengung zu offenkundig falschen Beurteilungen kommt – immer wieder in den Vordergrund?
Fluch und Segen des eigenen Verhaltens: Heuristiken
Menschen versuchen grundsätzlich jede Aufgabe, die sie bewältigen sollen und müssen, mit möglichst geringem Energieaufwand zum Abschluss zu bringen. Dies ist vernünftigerweise evolutiv so angelegt. Sie können das an sich selbst, an Ihren Mitarbeitern, an Ihren Vorgesetzten, selbst bei Wildfremden beobachten und überprüfen. Kein Mensch mit regulär ausgeprägten kognitiven Verarbeitungssystemen käme jemals auf die Idee nach dem (vermeintlich) erfolgreichen Abschluss einer Aufgabe zu sagen: „Das gleiche Ergebnis hätte ich gerne mit mehr Energieeinsatz erreicht.“ Ganz im Gegenteil: Die meisten Menschen stellen sich die Frage, wie sie das Gleiche mit weniger Einsatz, Hingabe und Ressourcen hätten erreichen können. Da die Nutzung des Systems 1 allerdings entschieden energiesparender vonstatten geht als die Nutzung des Systems 2 – und Sie und Ihre Mitmenschen ihre Energie eher sparen als verschwenden möchten – kommt System 1 häufiger zum Einsatz als System 2.
Der Energieaufwand entscheidet
Warum aber ist die Nutzung von System 1 überhaupt weniger energieintensiv als die Nutzung von System 2? Das ist die entscheidende Frage…
Um diesen Zusammenhang fassbar zu machen, nutzt die Verhaltensökonomie den Begriff der „Heuristik“, was im Grunde genommen schlichtweg eine Faustregel ist. In verschiedenen Kontexten, in denen Entscheidungen getroffen werden müssen nutzen Menschen Heuristiken. Das wiederum tun Menschen im privaten wie auch professionellen Kontext. So decken ähnliche Heuristiken auch ähnliche Beurteilungs- und Entscheidungsprozesse ab, bspw.
- Sind die Striche in der Müller-Lyer-Illusion gleich lang?
- Welches Fahrzeug möchte ich als nächstes erwerben?
- Passt diese Altersvorsorge auf Aktienbasis zu mir?
Man darf sich keinesfalls der Vorstellung hingeben, dass man in der Lage wäre, eine der oben gestellten Fragen lediglich mit dem System 1 beantworten zu können, genauso wenig wie man glauben darf, dass man auch bei größter Anstrengung zur Beantwortung der Fragen willentlich ausschließlich System 2 aktivieren könnte.
Der größte Vorteil von Heuristiken…
Auf dieser Grundlage bieten Heuristiken einen entscheidenden Vorteil: Sie reduzieren Komplexität, damit sparen Sie Energie. Wenn Sie vor komplexen Herausforderungen stehen versuchen Sie zumeist die Komplexität der Herausforderung zu reduzieren, indem bspw. eine kompliziert vorzunehmende Rechnung durch eine zweite, an verfügbaren Werten orientierte Schätzung zu ersetzen.
Ein Beispiel dafür ist die Berechnung einer Strecke für einen Überholvorgang. Um die notwendige Strecke zum sicheren Überholen eines anderen Fahrzeugs, bspw. eines Lasters, zu berechnen bräuchten Sie eine enorme Anzahl von Informationen, mindestens aber einige spezifische Daten.
- Ihre Geschwindigkeit und die des zu überholenden Fahrzeugs in Kilometern pro Stunde oder (noch besser) Metern pro Sekunde
- die Beschleunigung Ihres Fahrzeugs in Metern pro Sekunde zum Quadrat
- die Entfernung zum Fahrzeug, das Sie überholen möchten
- zuletzt ein Werkzeug zum exakten Messen der Zeit.
Wie ein Großteil der Menschen vor geht (auch wenn es falsch ist)
Da Sie keinesfalls all diese Daten haben, geschweige denn nutzen und auswerten wollen bevor Sie den Überholvorgang starten, tun Sie vermutlich Folgendes: Sie schätzen die benötigte Wegstrecke auf der Grundlage von vorangegangenen Überholvorgängen in ähnlichen Situationen, d.h. Umgebungen. Je nachdem, ob der auf Erfahrung beruhende Schätzwert ein sicheres Überholen zulässt oder nicht überholen Sie das andere Fahrzeug. (Oder eben nicht.) So oder so: Die angewendete Heuristik ist die Grundlage Ihrer Entscheidung. Dies ist ein durchaus praktikables Vorgehen bei der Bewältigung von Herausforderungen: Eine individuell tragfähige Heuristik einsetzen, die in etwa besagen könnte: „Laster auf Landstraßen zu überholen dauert nicht allzu lange, denn sie sind gleichbleibend langsam und ich bin schnell.“
Der große Nachteil von Heuristiken…
Heuristiken haben aber auch einen entscheidenden, jedoch erst auf den zweiten Blick sichtbaren Nachteil. Dieser ist aber immens: Ihre Aussagekraft ist auf den aktuellen Einzelfall begrenzt.
Das hinter der Heuristik stehende Denkmuster ist einfach. Je häufiger Sie andere Fahrzeuge auf Grundlage Ihrer individuellen Heuristik überholen, umso nützlicher erscheint sie. Ihre Richtigkeit bewährt sich schließlich mit jedem erfolgreichen und sicheren Überholmanöver aufs Neue. Dann wird Ihre individuelle Faustregel schnell zu einer, freilich sehr vereinfachten, Formel für das Überholen aller möglichen anderen Fahrzeuge. Nach einer bestimmten Zeit werden Sie die sichere Heuristik zum Überholen von großen Lastern auch auf kleine Laster anwenden. Denn ein Laster ist ein immer noch ein Laster.
Wenn Sie das immer wieder erfolgreich tun spricht wenig dagegen, diese Heuristik auch zum Überholen von Kastenwagen usw. einzusetzen, denn ein Kastenwagen ist kaum etwas anderes als kleiner Laster… Da sich aber am Wesen der Heuristik nichts geändert hat – sie bleibt eine Faustregel mit begrenzter Aussagekraft – steigt mit jeder erfolgreichen Anwendung der Heuristik die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sie beim nächsten Mal versagt. Sollte Ihre Heuristik zum Überholen anderer Fahrzeuge allerdings versagen sind schlimme Folgen unausweichlich. Denn auch das ist ein Wesenszug erfolgreicher Heuristiken: Wenn sie versagen, versagen sie auf ganzer Linie.
Was hat das mit meinem Unternehmen, meinen Entscheidungen und vor allem Problemen zu tun?
Wie wir oben festgehalten haben, sind Menschen bestrebt, die ihnen übertragenen Aufgaben mit möglichst geringem Energieeinsatz zu bewältigen. In einem Unternehmen entstehen permanent Aufgaben, diese werden an Mitarbeiter verteilt und diese erledigen sie mit möglichst geringem Energieeinsatz. Ein geringer Energieeinsatz bedeutet nicht zwangsläufig, dass die Mitarbeiter die Arbeiten schlecht oder unzureichend erledigen! Es bedeutet lediglich, dass gerade bei wiederkehrenden Aufgaben das Potenzial zur Energieeinsparung sehr ausgeprägt ist. Und was ist besonders energiesparend bei der Bewältigung von Aufgaben, vor allem scheinbar wiederkehrenden Routineaufgaben? Heuristiken.
Daraus ergeben sich für Sie und Ihr Unternehmen unter Umständen schwerwiegende Probleme, denn:
- Ein Unternehmen hat Ziele.
- Um diese Ziele zu erreichen müssen Unternehmen Aufgaben bewältigen.
- Aufgaben werden in Unternehmen von Menschen bewältigt.
- Menschen bewältigen Aufgaben möglichst energiesparend.
- System 1 ist für die energiesparende Bewältigung von Aufgaben prädestiniert.
- Zum Energiesparen nutzt System 1 Heuristiken.
- Heuristiken sind fehleranfällig, sie funktionieren oft, aber nicht immer.
- Wenn Heuristiken versagen, versagen sie auf ganzer Linie.
Das logische Ergebnis dieser Ausführungen kann nur sein, dass Unternehmen in einigen Fällen ihre Ziele nicht erreichen werden, weil notwendigerweise erfolgreich abzuschließende Aufgaben nicht erfolgreich abgeschlossen werden. Das wiederum ist ganz eindeutig ein zentrales Problem von Unternehmen. Denn wenn ein Unternehmen seine Ziele wegen nicht abgeschlossener Aufgaben verfehlt, kann es kaum langfristig erfolgreich sein.
Welchen Wert haben dann Heuristiken im Unternehmenskontext?
Zusammengefasst bedeutet das, dass Heuristiken einerseits einen großen Anteil am Unternehmenserfolg haben können. Denn so lange sie zu richtigen Ergebnissen führen, haben sie den Mitarbeitern im Unternehmen Arbeitseinsatz gespart. Diesen Arbeitseinsatz konnten die Mitarbeiter im Idealfall an anderer Stelle produktiver – das heißt zum Erreichen höherer Unternehmensziele – einsetzen.
Andererseits ist die Nutzung von Heuristiken mit großen Risiken behaftet, eben weil Heuristiken auch zu falschen Ergebnissen führen können. Insofern man annimmt, dass ihre Aussagekraft zwar für eine Vielzahl von strukturell vergleichbaren Einzelfällen hinreichend ist, bedeutet das im Umkehrschluss, dass die Heuristik bei einer geringeren Zahl von Einzelfällen nicht hinreichend ist. D.h., die Heuristik funktioniert nicht, ihre Anwendung führt zu Fehlern. So wie die Heuristik zum Überholen von großen Lastwagen zwar auch zum Überholen von kleinen Lastwagen sowie – vielleicht – auch noch von Kastenwagen angewendet werden kann, kommt unvermeidlich das Fahrzeug, an dem sie nicht mehr funktioniert. Dies im Vorfeld zu erkennen, ist für die betreffenden Mitarbeiter und Führungskräfte aber nahezu unmöglich. Schließlich wurde die Richtigkeit der Heuristik im Vorfeld immer wieder bestätigt. Zudem ist die Anwendung der Heuristik im System 1 verankert, welches wiederum „automatisch und schnell, weitgehend mühelos und ohne willentliche Steuerung“ arbeitet.
Was ist nun wichtig?
Für Unternehmen sind deshalb zwei Dinge wichtig: 1. Die Nutzung von Heuristiken grundsätzlich zuzulassen, um die anfallenden Aufgaben ressourceneffizient bewältigen zu können und 2. Kontrollschleifen für die Anwendung von Heuristiken sowie Rückfallpläne für das eventuelle Versagen von Heuristiken zu implementieren. Wie genau Sie das tun können, lesen Sie in den nächsten Beiträgen zur Verhaltensökonomie.
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