Es kommt zusammen, was zusammengehört: Innen und außen ergeben das Ganze
Im letzten Beitrag wurde die Optimismus-Verzerrung beleuchtet und mit der Prä-Mortem-Methode ein schnell einsetzbares Werkzeug vorgestellt, mit dem sich die entstehenden Verzerrungen und deren Folgen durchbrechen lassen. Dabei wurde allerdings auch angedeutet, dass beim Treffen von Entscheidungen – und wenn Pläne aufgestellt werden, werden zwangsläufig Entscheidungen getroffen – nicht nur Optimismus eine Rolle spielt. Auch ein weiterer Einflussfaktor spielt eine weitreichende Rolle: die „Innenperspektive“ und die „Außenperspektive“. Was ist damit gemeint? Im Grunde genommen ist es ganz einfach:
Abrufbares und anwendbares Wissen sind kontextabhängig. Manchmal erkennt man das eigene Wissen nicht an.
Ein Alltagsbeispiel
Lassen Sie mich dazu ein kurzes, dem Alltag entlehntes Beispiel nennen. Sicherlich kennen Sie jemanden, der sich bei Verabredungen jedes Mal – ohne Ausnahme – verspätet. Typischerweise sind diese Personen nicht vollkommen unhöflich, sonst würden Sie sich vermutlich nicht ihnen verabreden. Typischerweise kaschieren diese Personen ihr Zuspätkommen mit einer gewissen Portion Nonchalance. (Sonst würden Sie es ihnen schließlich auch nicht durchgehen lassen.) Worauf Sie außerdem wetten können, ist ein meist umständlicher Wortschwall, der das Zustandekommen der Verspätung als unvermeidlich und unplanbar darstellt.
Bspw. dauerte das Fertigmachen länger als gedacht. Oder auf dem Weg in die Innenstadt gab es einen Stau. Oder man fand keinen Parkplatz in der Nähe des Verabredungsortes. Etc., etc… All diese Dinge mögen stimmen. Aber der rosa Elefant im Raum ist trotzdem die Frage: Warum hat die Person diese Dinge nicht eingeplant? Schließlich weiß die Person genau um den Zeitaufwand zum Föhnen der eigenen Haare. Sie weiß auch um die angespannte Verkehrslage oder die Parkplatzsituation in der Innenstadt. Sie weiß vor allem deshalb darum, weil sie bereits mehrfach mit genau jenen Problemen konfrontiert war, die die Umsetzung ihres eigenen Plans zuverlässig verhinderten.
Warum die Innenperspektive so bequem und die Außenperspektive so schwierig einzunehmen ist…
Nun werden die Angesprochenen argumentieren, dass man zumindest auf die Verkehrs- und Parkplatzsituation keinerlei Einfluss habe. Man könne (und wolle) schließlich nicht für jede Eventualität planen. Das mag sein, aber wir haben es hier lediglich mit zwei Eventualitäten zu tun, die zudem eben keine Eventualitäten sind. Sie sind mittels Zeitpuffer einzuplanende Hindernisse, die so sicher sind wie das Amen in der Kirche; Murphys Gesetz gilt überall.
Hinzu kommt folgende Beobachtung: Wenn Sie die gleichen Personen in anderen, oder sogar sehr ähnlichen Zusammenhängen nach ihren Prognosen fragen, welche Zeit man am besten einplanen solle, um pünktlich an einem angegeben Ort zu sein, erhalten Sie sehr präzise, zuverlässige und praxistaugliche Aussagen.
Das lässt nur den Rückschluss zu, dass – zumindest diese befragte Person – mindestens zwei verschiedene Prognosen für denselben Sachverhalt abgeben kann. Die Prognosen unterscheiden sich lediglich nach dem Grad der eigenen Betroffenheit. Wenn die Person sich selbst auf den Weg von A nach B macht braucht Sie die Zeit X. Wenn sich jemand anderes auf den Weg von A nach B macht, braucht diese Person die Zeit X+Y, also länger. Diese Beobachtung lässt also auf die Existenz von zwei verschiedenen Prognosemodellen schließen. Diese Prognosemodelle wiederum lassen sich als die „Innenperspektive“ und die „Außenperspektive“ bezeichnen.
Zwei Prognosemodelle für denselben Sachverhalt?
Neben der Existenz zweier verschiedener Prognosemodelle sind hier noch zwei weitere Beobachtungen mit ebenso weitreichenden Folgen zu machen:
- Wenn Sie die Person befragen, wie sie zur Schätzung des eigenen Zeitaufwandes X für den Weg von A nach B kommt, werden Sie beobachten können, dass sie mit Optimumwerten argumentiert: Gemäß dem Schema „Wenn alles geklappt hätte wie geplant, dann wäre ich pünktlich zu unserer Verabredung erschienen“. Das lässt zwei Rückschlüsse zu. a) Der Plan war in sich richtig, aber die Umwelteinflüsse wurden nicht adäquat berücksichtigt. b) Der Plan war von vornherein falsch. Beides läuft auf dasselbe Ergebnis hinaus.
- Wenn Sie diese Person das nächste Mal – denn sie wird wieder zu spät kommen – zur Rede stellen, warum sie ihren Plan nicht modifiziert hat, wird sie eine sog. „irrationale Beharrlichkeit“ zeigen. Trotz Vorlage der wichtigsten Daten zur Modifikation des Plans wird sie unvernünftiger Weise an der Ursprungsversion ihres Plans festhalten wollen. Obwohl dieser Plan für Außenstehende leicht als fehlerhaft durchschaubar ist!
Für dieses Muster finden Sie in Ihrem direkten und indirekten, Ihrem privaten wie auch professionellen Umfeld immer wieder Beweise. Wenn man einigermaßen dafür sensibilisiert ist, muss man auch nicht ernsthaft danach suchen, denn dieses menschliche Verhaltensmuster ist omnipräsent.
Was bedeutet das für ein Unternehmen? Wie groß ist der Schaden?
Lassen Sie uns einen Schritt weiter gehen und dieses Muster vom Privat- in den Unternehmensbereich verlagern. Zwar bleibt das Muster gleich, aber die Folgen dieses Verhaltensmusters können beträchtlich nach oben abweichen. Wenn es bspw. um das Verpassen von Lieferfristen, um die Fehlkalkulation von Budgets, oder aber um die Entwicklung, Umsetzung oder Korrektur einer Unternehmensstrategie geht – mit entsprechend schwerwiegenden Folgen: Kundenschwierigkeiten, Konventionalstrafen und Unternehmensniedergang – kommt man weder mit planerischen Optimumwerten noch irrationaler Beharrlichkeit besonders weit. Ganz im Gegenteil: Sie nützen nichts, sie sind sogar die Grundbedingung für das Entstehen der Probleme. Die letztliche Ursache für die Probleme ist aber die gravierende Differenz und fehlende Berücksichtigung der Innen- und Außenperspektive.
Experten blicken anders auf Dinge als Laien dies tun
Die Differenz zwischen der Innen- und der Außenperspektive lässt sich auch beschreiben als eine Differenz zwischen der Laien- und Expertenperspektive. Denn letztlich – und das ist das Interessante – ist es auch für Experten mit eigenem Spezialgebiet, ihren überdurchschnittlichen Analysefähigkeiten und ausgeprägten Problemlösungswissen ungeheuer schwierig, diese wichtige Trennung unterschiedlicher Rollen bei der Entscheidungsfindung beizubehalten.
Sie können in der Praxis häufig beobachten, dass Experten – wenn sie bspw. Teil eines planenden und umsetzenden Teams sind – in der Innenperspektive verharren. Sie schätzen trotz ihres Expertenwissen, das sie eigentlich befähigen sollte, der Nutzung von Optimumwerten und der Anwendung irrationaler Beharrlichkeit zu widerstehen, Erfolgschancen von Projekten unrealistisch gut ein. Zudem halten auch diese Experten – solange sie Teil des Teams sind und nicht zu einem mentalen Perspektivwechsel gezwungen sind – an Projekten mit geringen Erfolgsaussichten viel zu lange fest.
Auch Experten liegen falsch, vor allem, weil sie Experten sind.
Konfrontiert man dieselben Experten allerdings mit entsprechend aufbereiteten Informationen zu anderen, ähnlichen Planungs- und Umsetzungteams mit ähnlichen Aufgaben, Anforderungen und Ausstattungen, geben sie vollkommen abweichende Erfolgschancen und -aussichten an, als sie dem eigenen Team einräumen: nämlich sehr viel geringere, d.h. realistischere Chancen.
Dieser Befund ist von großer Tragweite. In ihm verbirgt der Grund, warum bspw. Expertenkommissionen oder vor allem Teams, die mit Experten ergänzt werden, trotz oder gerade wegen der Experten im Team fehlerhafte Planungen hervorbringen. Da nämlich die Optimumwerte von Experten für Nicht-Experten völlig außerhalb des Greif- und vor allem Erreichbaren liegen, aber trotzdem von diesen Werten ausgehend geplant wird, erhöht sich letztlich die Differenz zwischen Plan und Umsetzung noch weiter.
Wenn also Experten maßgeblich an der Planung beteiligt sind, kann sich das – ohne den erzwungenen Perspektivwechsel – enorm negativ auswirken. Betrachtet man nun die Gründe für das Hinzuziehen von Experten offenbart sich die ganze Tragweite des Desasters: Schließlich holt man in den meisten Fällen Experten in ein Team, um von deren Außenperspektive zu profitieren – sobald sie allerdings ein Teil des Teams sind, sind die Verlockungen zur Einnahme und zum Ausleben der Innenperspektive oftmals zu groß.
Wie sehen die Lösungen für solche schwerwiegenden Probleme aus?
Wie sieht nun allerdings eine Lösung dieses Problems aus? Fragen wir anders. Wie kann man einen Wechsel zwischen der Innen- und der Außenperspektive bewusst provozieren und zum Vorteil des Gesamtprojekts nutzen?
Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten. An dieser Stelle sollen aber die beiden wesentlichen Möglichkeiten genügen, da sie leicht verständlich und vor allem leicht umsetzbar sind. Die beiden Möglichkeiten können an unterschiedlichen Stellen im Zeitverlauf eingesetzt werden, die eine im Vorfeld, die andere an jeder beliebigen Stelle im weiteren Fortgang – aber auch hier gilt: Je früher desto besser, denn einen einmal gefassten Plan umzuschmeißen ist aufgrund von starken Selbstbildern, einer weitverbreiteten negativen Unternehmenskultur und einer ausgeprägten Pfadabhängigkeit oftmals nicht möglich.
Lösung 1 – Vor dem Beginn der Planungsphase Kontrastplanungen durchführen.
Wenn man davon ausgeht, dass es sinnvoller ist an den Ursachen von Problemen zu arbeiten, statt an deren Symptomen herumzudoktern, dann ist vollkommen klar, dass ein möglichst frühes Absichern gegen den Ausbruch von Symptomen Sinn macht. Das bedeutet, dass man möglichst frühzeitig beginnt, die Ursachen von Problemen zu antizipieren und entsprechende Handlungen abzuleiten. Wenn man nun wiederum davon ausgeht, dass ein Großteil aller Probleme, die bei Planung und Umsetzung von (wie auch immer gearteten) Projekten auftreten, nur deshalb zustande kommen, weil die Außenperspektive systematisch vernachlässigt wird, muss man genau das verhindern. Man muss dafür sorgen, dass idealerweise vor dem Planungsbeginn Kontrollschleifen etabliert werden und sinnvolle Monitoring-Maßnahmen installiert werden. Diese Kontrollschleifen und Monitoring-Maßnahmen lassen sich letztlich als Kehrseite der Innenperspektive, d.h. als kontrastierende Außenperspektive auffassen.
Weichen im Vorfeld richtig stellen!
Aus der Akzeptanz dieser Prämissen kann nur folgen, dass diejenigen, die ihre Außenperspektive einbringen sollen, dies im Vorfeld tun, indem sie ähnliche Projekte mit vergleichbaren Ausgangspositionen, Zielsetzungen und Umwelteinflüssen sichten und bewerten. Da es um Kontrastplanung und Außenperspektive geht, müssen zwangsläufig andere Projekte gesichtet und nicht lediglich das eigene geprüft werden. Erst nach Sichtung der anderen Projekte kann man damit beginnen, konstruktive Vergleiche mit dem eigenen Projekt anzustreben.
Erst dann offenbart sich – aus der Differenz oder eben mangelnden Differenzierbarkeit des eigenen zum fremden Projekt – wie belastbar die eigene Planung ist. Wenn nämlich die Ausgangsposition, die Zielsetzung und die Umwelteinflüsse bei zwei verschiedenen Projekten die gleichen sind, aber die eine Projektgruppe glaubt, nur halb so viel Zeit für die Beendigung zu brauchen wie die andere Projektgruppe nachweislich gebraucht hat; dann wurden entweder essenzielle Unterschiede zwischen den Projekten übersehen, oder es gibt gravierende Planungsfehler. Diese gilt es entsprechend zu identifizieren und abzustellen.
So oder so gilt: Es ist nahezu unmöglich den Blick auf das eigene Tun zu externalisieren, weshalb es auch wenig lohnenswert ist, das überhaupt tun zu wollen – solange man keine Kontrastfolie hat, an der sich das eigene Tun tatsächlich spiegeln ließe. Je früher diese Erkenntnisse über die entsprechenden Kontrollschleifen und Monitoring-Maßnahmen Eingang in die Planung und Umsetzung finden, umso realitätsnäher, d.h. verlustfreier, wird das Projekt tatsächlich erfolgreich zum Abschluss gebracht. Die Vorteile dieser ersten Lösung liegen auf der Hand.
Lösung 2 – Während des Projekts bewusst einen White-Strategy-Status herbeiführen.
Die White-Strategy ist eine Methode zur Erstplanung und Plankorrektur. Ein weißes Blatt Papier steht sinnbildlich für die geistige „Start-Up-Mentalität“ der involvierten Personen. Die White Strategy findet ihre Grundlage somit im gewollten Ur- und Rohzustand einer Idee oder eines Projekts. Dieses Zurücksetzen hat das Ziel „durch objektives und zukunftsorientiertes Denken neue strategische Ansätze oder Strategien zu entwickeln oder auch die bisherige Vorgehensweise zu bestätigen“. Somit dient die White Strategy nicht nur nicht nur der Entwicklung und Umsetzung neuer Ideen. Sie ist ebenso geeignet bestehende Ideen, Konzepte und Strukturen zu erfassen, kritisch zu sichten. Anschließend (!) erfolgt dann die Bestätigung und Modifizierung.
Demzufolge ist die Quintessenz des White-Strategy-Konzepts der unbedingte Wille der Akteure, strategische Planung als Grundlage für die unternehmensinternen und -externen Prozesse zu nutzen und sie gleichzeitig als Kontrollinstrument einzusetzen. Das bedeutet, dass die Planung sowie die kritische Reflektion derselben die Aufgabe hat, die Akteure aus ihrer eigenen Komfortzone herauszuholen und in einem selbstverpflichtenden Prozess das eigene Tun immer wieder zu spiegeln. Dabei wird Planung als ein kreativer, iterativer, ihrem Wesen nach zukunftsorientierter Prozess verstanden.
Ein bewusster, erzwungener Perspektivwechsel
Dieses bewusste Herbeiführen eines Urzustandes hat – bei entsprechender Anleitung – einen Reboot des Mindsets der involvierten Personen und Experten zur Folge. Dieser Reboot provoziert zwangsläufig den erforderlichen Perspektivwechsel von der Innensicht hin zur Außensicht. Das ist für die kritische Sichtung der eigenen Aktivitäten unumgänglich und ohne einen externen Anschub innerhalb eines laufenden Projekts unmöglich.
Der Vorteil des White-Strategy-Ansatzes ist zudem, dass er seine volle Wirkung paradoxerweise während der Umsetzung eines Projekts entfaltet. Warum? Weil hier der Gegensatz zwischen der eigenen Planung sowie der eigenen Umsetzung, aber auch den Planungs- und daraus folgenden Umsetzungsdefiziten ganz offensichtlich wird. Denn: Wenn man sich während eines laufenden Projekts die Frage stellt, ob man es unter gleichen Bedingungen noch einmal genauso angehen würde und man käme zu dem Schluss, dass man das tun würde – dann dürfte das eigene Reflektionsvermögen und die Fähigkeit zum Einnehmen einer Außenperspektive ernsthaft und nachhaltig gestört sein.
Dann helfen weder Kontrastplanungen noch White-Strategy…
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