Der niederschmetternde Status Quo der menschlichen Entscheidungsfindung
Im letzten Beitrag wurden schon einige Eckpfeiler für die tragfähige Auseinandersetzung mit der menschlichen, damit auch unternehmerischen Entscheidungsfindung gesetzt. Dabei stellte sich heraus, dass die Möglichkeiten einer konsistenten Entscheidungsfindung extrem beschränkt sind, vor allem angesichts der Dominanz des Systems 1. Hinzu kam die ernüchternde Tatsache, dass ein Großteil der vermeintlichen System 2-Entscheidungen – wir erläuterten es am Beispiel eines wichtigen Geschäftsmeetings – ihrem Wesen nach genau das nicht sind: reflektierte System 2-Entscheidungen, die sich einerseits an den zur Verfügung stehenden, objektiven Informationen orientieren und andererseits persönliche, subjektive Präferenzen und Sichtweisen konsequent ignorieren.
Beides stimmt schlichtweg nicht. Besonders gravierend und eine Grundlage für den Stuck-State vieler Unternehmer und Unternehmen war dabei die Schlussfolgerung, dass zum Treffen von zahlreichen, teils schwerwiegenden Entscheidungen überhaupt keine Alternativen gegeneinander abgewogen werden, sondern lediglich über das „Ja“ oder „Nein“ hinsichtlich einer einzelnen Entscheidung befunden wird.
Angesichts dieser niederschmetternden Befunde möchten wir die problematischen Folgen dieses Modus Operandi ausführlicher verdeutlichen: Gerade weil die meisten Entscheider für sich reklamieren würden, dass der Ausschluss bestimmter Alternativen ein bewusster, reflektierter und sinnvoller Akt der Komplexitätsreduktion wäre – warum sollte man schließlich seine Zeit mit der Debatte sinnloser Optionen verschwenden, wenn andere Optionen von vornherein besser sind?
Weil aber bereits diese Frage ein gewichtiger Teil des Problems ist, beschäftigen wir uns mit ihrem zugrundeliegenden Muster: der Präferenzumkehr.
Was ist das schon wieder, „Präferenzumkehr“?
Die Präferenzumkehr ist ein hochinteressantes Phänomen. Es beschreibt eine Tatsache, die dem überzeugten Homo Oeconomicus einen weiteren Stich in dessen selbstbewusstes Herz versetzen wird: Gleiche Alternativen werden je nach Kontext vollkommen unterschiedlich bewertet!
Im Zuge der (vermeintlichen) inneren Konsistenz unserer Entscheidungen dürfte das eigentlich nicht passieren. Denn seien wir ehrlich, die meisten Menschen glauben Folgendes: Es gibt keinen Grund von einer Entscheidung abzuweichen, wenn sich objektiv nichts an der Entscheidungsgrundlage geändert hat, d.h., die zur Verfügung stehenden Informationen unverändert sind. Das klingt logisch und nachvollziehbar. Dennoch tun wir als Menschen das ständig. Trotz gleicher Entscheidungsgrundlage entscheiden wir kontextabhängig unterschiedlich.
In experimenteller Hinsicht sieht das so aus: Sie bekommen über einem längeren Zeitintervall hinweg verschiedene Objekte zur Bewertung vorgelegt. Sie tun, was Sie immer tun: Sie bewerten diese Objekte einzeln und objektiv. Ein Beispiel, an dem Christopher Hsee von der Universität in Chicago die Präferenzumkehr aufzeigt, ist ein unschuldiger Gegenstand – ein Musikwörterbuch. Das Beispiel ist Daniel Kahnemann entliehen.
Wörterbuch 1 | Wörterbuch 2 | |
Erscheinungsjahr | 1993 | 1993 |
Zahl der Einträge/Lemmata | 10.000 | 20.000 |
Zustand | Wie neu | Einband zerschlissen, ansonsten wie neu |
Ein Beispiel, übernommen von Daniel Kahnemann
Legt man den Probanden die entsprechenden Bücher nacheinander vor, sind sie bereit, für Wörterbuch 1 einen höheren Betrag zu zahlen als für Wörterbuch 2. Werden die Probanden allerdings gebeten, beide Wörterbücher gemeinsam zu bewerten, kommt es zur Präferenzumkehr. Plötzlich sind die gleichen Personen – die vorher über die gleichen Informationen verfügt haben und auf deren Grundlage eine reflektierte Entscheidung getroffen haben – bereit, für das Wörterbuch 2 einen höheren Preis zu zahlen. Das erscheint schlicht irrational, hat sich doch an den Wörterbüchern nichts, rein gar nichts geändert.
Wie kann das plausibel sein?
Plausibel wird diese Präferenzumkehr erst, wenn man sich vergegenwärtigt, welche der vorhandenen Information bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden. Denn bestimmte Informationen zu den Wörterbüchern sind „Nicht-Informationen“. Zu dieser Informationskategorie gehört die Anzahl der Lemmata. Solange Sie die Wörterbücher einzeln bewerten, würdigen Sie die Zahl der Lemmata – die ein vereinfachtes Merkmal für die inhaltliche Qualität eines Wörterbuchs ist – nicht ausreichend. Sie würdigen hingegen den offensichtlichen Zustand des Wörterbuches („wie neu“ vs. „Einband zerschlissen“) übermäßig. Solange Sie keinen direkten(!) Vergleichsmaßstab für die Qualität des Buches haben, spielt diese kaufrelevante Information für Sie keine Rolle.
Das kann sie auch gar nicht, schlichtweg, weil die reine Anzahl der Wörter überhaupt nicht als kaufrelevante Information bewertbar ist. Letztlich ist es Ihr System 1, dass bei der ersten Sichtung (die folglich recht oberflächlich ist) der Informationen über das Wörterbuch 1 „entschieden“ hat, dass 10.000 Lemmata eine große Anzahl von Lemmata sind. Folglich schließen Sie recht schnell daraus, dass eine große Anzahl Lemmata mit einer hohen Qualität des Wörterbuchs korreliert. Wenn also die Anzahl der Lemmata „groß“ ist, ist die Qualität des Wörterbuchs „hoch“. So weit, so klar. So einfach, so falsch…
Es ist immer eine Frage der Verhältnismäßigkeit
Nun wissen Sie bisher nämlich lediglich, dass die Anzahl der Einträge „groß“ ist – diese Information dürfte aber keinesfalls ausreichen, um eine objektive Bewertung vorzunehmen oder gar eine Kaufentscheidung zu treffen. Dazu müssten Sie außerdem wissen, „wie groß“ die Anzahl der Lemmata tatsächlich ist. Erst diese Information würde Rückschlüsse auf die tatsächliche Qualität des Wörterbuchs 1 im Verhältnis zu anderen Wörterbüchern erlauben. Zur Illustration: Für ein 3-jähriges Kind ist ein 6-jähriges Kind „groß“, für ein 10-jähriges Kind ist ein 14-jähriger Jugendlicher „groß“, aber für einen 16-jährigen Jugendlichen ist ein 24-jähriger Mann nicht mehr unbedingt „groß“. Schlussendlich gibt es große und kleine 3-jährige, 6-jährige etc. Kinder. Eben solche Verhältnisse und Verhältnismäßigkeiten gibt es auch bei Wörterbüchern. Und erst aus der Verhältnismäßigkeit zu anderen Objekten der gleichen Kategorie lässt sich eine valide Bewertung des Einzelobjekts vornehmen.
Warum sind Musikwörterbücher für mein Unternehmen relevant?
Viele Leser werden an dieser Stelle verständlicherweise einwenden, dass die Bewertung von Wörterbüchern überhaupt keinen Bezug zu den typischen Entscheidungsoptionen und -maßstäben in Unternehmen hat. Diese Abwehrhaltung ist nachvollziehbar, sie ist typisch. Und deshalb ist sie die Ursache für unternehmerische Probleme.
Ursache für das Problem ist das eigentlich Offensichtliche: Selbst, wenn relevante Informationen vorhanden sind, werden diese nicht immer und nicht im erforderlichen Umfang genutzt. Wenn Sie – vereinfacht gesprochen – drei relevante Informationen haben, Sie Ihre Entscheidung für oder gegen eine einzelne Option allerdings auf der Grundlage der unwichtigsten der drei Information treffen (weil Sie glauben, dass diese Information die Wichtigste wäre); dann ist es ein Problem.
Vor allem die isolierte Betrachtung der einzelnen Entscheidungsoptionen ist hier problematisch. Eine isolierte Sicht auf Einzelalternativen führt zwangsläufig zu einer oberflächlichen Betrachtung der relevanten Informationen. Sie führt zum unwissentlichen Ignorieren der „Nicht-Information“, weil jede Möglichkeit zur Kontextualisierung, d.h. letztlich zur Überführung einer „Nicht-Information“ in eine tatsächliche Information ungenutzt bleibt.
Zurück zur Beispielsituation
Kommen wir auf unsere Beispielsituation im Geschäftsmeeting zurück. Wie wir hier ausgeführt haben, wird in dem besagten Meeting lediglich eine Alternative und deren Umsetzung zur Debatte gestellt. Die Frage des Entscheiders an die Meetingteilnehmer lautet dementsprechend: „Was machen wir diesbezüglich?“. Aus der Binnenperspektive der Entscheider betrachtet ist diese Frage plausibel und zielführend. Wenig plausibel, regelrecht irreführend ist allerdings die Frage, die hier eigentlich verhandelt wird, nämlich: „Welche offensichtlichen Informationen stehen aufgrund der isolierten Betrachtung zur Bewertung der Option überhaupt zur Verfügung und welche davon ist die Offensichtlichste?“. Eine solche Frage und deren Antwort kann letztlich nur zu völlig unzureichenden Antworten führen. Vor allem, weil bereits im Vorfeld andere Alternativen mit weniger ausgeprägten, d.h. weniger offensichtlichen, aber dennoch relevanten Informationen ausgeschlossen wurden.
Das ist so gravierend, weil erst in der Gesamtschau, also dem gezielten Nebeneinanderlegen aller Einzeloptionen, die „Nicht-Informationen“ zu relevanten Informationen werden können. Auf das Beispiel der Wörterbücher bezogen bedeutet das, dass sich erst durch die gleichzeitige Betrachtung und Bewertung von Wörterbuch 1 und Wörterbuch 2 für alle nachvollziehbar gezeigt hat, was sich bei der isolierten Betrachtung nicht gezeigt hätte: Nämlich, dass Wörterbuch 2 die bessere Alternative ist.
Wie viele fantastische Produkte sind nie ernsthaft diskutiert worden sind, weil ein schnell änderbares Detail vermeintlich nicht stimmte?
Betrachten wir die Welt, in der wir leben einmal genauer, vor allem die Produkte, die uns umgeben. Schauen wir uns insbesondere komplexe Produkte an, bspw. Autos. Was glauben Sie bspw., wie viele sinnvolle und günstige Konzept-Fahrzeuge mit Elektroantrieb bisher nicht über den Status des Konzept-Fahrzeugs hinausgekommen sind, bloß weil bei der Betrachtung der Einzeloption „Konzeptfahrzeug mit Elektroantrieb“ eine Einzelinformation, hier die Reichweite, als zu gering erachtet wurde? Sie können sicher sein, dass es eine ganze Menge sind. Es geht hier nicht darum, die Entscheidung für ein Produkt leichtfertig zu treffen. Es geht darum, dass nicht für das beste Produkt entschieden wurde, sondern für ein schlechteres.
Letztlich scheitert die Einführung von Produkten – oder vielmehr die Vorstufe davon, z.B. der Produktpitch bei den Entscheidern – häufig eben nicht daran, dass das Produkt nicht das beste Produkt ist (denn das ließe sich erst in der Gesamtschau beurteilen), sondern dass das Produkt in einer einzelnen Bewertungskategorie nicht das beste Produkt ist. Sie können das sicherste, bequemste und am intuitivsten zu bedienende Konzept-Fahrzeug konstruieren – es ändert nichts daran, dass bei einer isolierten, alternativlosen Perspektive auf das Konzept-Fahrzeug doch dessen mangelnde Reichweite zum Scheitern des Projekts führt. Wenn Unternehmen und Unternehmer so handeln, verbessern sie nicht etwa ihre Auswahl- und Bewertungsprozesse, sondern verhindern systematisch eine Verbesserung derselben. Sie reduzieren keine Komplexität bei der Entscheidungsfindung, sondern schaffen perspektivische Eindimensionalität. Letztlich entgeht Unternehmen damit Geld und Wissen, nichts anderes.
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