Empörung als Modus Operandi zieht immer
Nichts erregt in Deutschland mehr mediale Aufmerksamkeit als eine Äußerung – oder noch besser ein konkreter Vorschlag –, die sicher geglaubte Traditionen, gewohntes Althergebrachtes und damit vor allem Selbstverständliches infragestellt. Die Stärke des entstehenden medialen Orkans steht zumeist in keinem vernünftigen Verhältnis zur Kraft des Flügelschlags des Schmetterlings, der ihn ausgelöst hat. Wem dieser Sturm nicht reicht, sollte etwas schier Ungeheuerliches tun um Aufmerksamkeit und Gegenwind zusätzlich zu kanalisieren: Er sollte nicht nur etwas abschaffen wollen, sondern auch noch einen Vorschlag machen, womit das Traditionelle, Althergebrachte und Selbstverständliche ersetzt werden kann. Als wäre die Abschaffung nicht schon fordernd genug, überfordert ein weiterführender Vorschlag ganz gewiss: Sie sehen das im kleinen und im großen Maßstab, historisch und aktuell.
Kognitive Dissonanzen sind ein schlechter Ausgangspunkt für konstruktive Debatten
Aktuell und in besonders besorgniserregendem Ausmaß sehen wir derzeit ein Innenstadtsterben. Wir, und ich rede hier von uns als Konsumenten, tun derzeit unser Möglichstes, der Innenstadt und ihren Geschäften als Garant für Nahversorgung sowie sozialem Treffpunkt den Garaus zu machen. Äquivalent zum Klimawandel sind wir als Konsumenten maßgeblich für existenzbedrohende Probleme verantwortlich, handeln aber wider unseres besseren Wissens: Wir fliegen weite Strecken, obwohl es zu Hause doch auch sehr schön ist und wir kaufen Dinge im Internet, obwohl es sie doch auch in der Innenstadt gibt. Wir Verbraucher zeigen auf der individuellen wie auch kollektiven Ebene unsere erstaunlichen Fähigkeiten zum Ertragen kognitiver Dissonanzen.
Ob dieses Innenstadtsterben nun plausibel ist oder nicht, ob sich aus den Entwicklungen der jüngeren Jahre tatsächlich valide Rückschlüsse auf die nähere und fernere Zukunft ziehen lassen ist gar nicht Gegenstand dieses Beitrags, sondern etwas ganz anderes: Nehmen wir an, es käme zu einem Sterben, zur vielzitierten „Verödung der Innenstädte“ und dem damit verbundenen Leerstand großer Flächen. Was könnte man dann tun? Wozu, wenn nicht zum Einkaufen, d.h. zum Wohl des stationären Einzelhandels sowie zum Wohl des lokalverbundenen Kunden, könnten Innenstädte dann genutzt werden?
„Innenstädte können sinnvoller genutzt werden als für Klamottenläden“
Der durchaus streitbare About-You-Gründer Tarek Müller stellte dazu nüchtern und unaufgeregt fest: „Innenstädte können sinnvoller genutzt werden als für Klamottenläden“ und rüttelt damit an der Heiligen Kuh des Einzelhandels wie auch am Selbstverständnis von Generationen früherer Stadtplaner. Doch damit nicht genug: Er konkretisierte auch, was in seinen Augen „sinnvoller“ in Innenstädten aufgehoben wäre, nämlich bspw. Kindergärten, Schulen und Altersheime. Seiner Meinung nach solle man sich eben nicht der Tatsache des eventuellen Leerstands von Gewerbeimmobilien ergeben, sondern nach einer neuen, sozial wünschenswerten Nutzung dieser freigewordenen Flächen streben. Und hier haben wir es nun: Er folgte nicht nur dem Sirenengesang des HDE – indem er zusätzlich noch sagte, dass der vom Kunden präferierte Onlinehandel eben keine Innenstadt als solche bräuchte – sondern machte noch einen weiterführenden Vorschlag.
Er stellte damit eine Selbstverständlichkeit, namentlich die Notwendigkeit eines Konzepts Innenstadt mitsamt einer großen Bandbreite von Geschäften von Cafés über Spielotheken bis hin zu „Klamottenläden“, in Frage. Schon dafür können sich die Wenigsten begeistern: Das Infragestellen des Selbstverständlichen, die Frage: „Brauchen wir das tatsächlich so?“ Darüber hinausgehend ereiferte er sich (aus Sicht der Kritiker) auch noch zu fragen, ob denn eine Modifikation des Konzepts Innenstadt dazu führen könnte, die konkrete Nutzung von Innenstädten zukünftig neu zu denken? Was er also tun wollte war etwas sozial und ökonomisch Sinnvolles sowie Weitsichtiges: Eine Veränderung und deren Herausforderungen konstruktiv, ergebnisoffen und sozialverträglich zu nutzen. Und dafür erntete er Widerspruch, jede Menge. Dafür erntete er auch Zustimmung, jedenfalls ein wenig. Aber konstruktive, zielführende Kritik erntete er lediglich in homöopathischen Dosen.
Reiz und Reaktion sind im medialen Raum herrlich einfach kalkulierbar
Warum? 1. Weil es wenig kostet zu widersprechen; man braucht kaum Zeit und noch weniger Intellekt. 2. Weil es sehr einfach ist zu widersprechen; man braucht nichts Besseres anzubieten.
Das ist in vielerlei Hinsicht sehr sprechend, geradezu verräterisch sowohl die Debattenkultur als auch die Argumentationsschemata betreffend. Vollkommen losgelöst von der Frage, ob die Diskutanten sich im Sinne einer privaten oder professionellen Meinung zu Wort meldeten, standen bei der Auseinandersetzung mit Müllers Debattenbeitrag weder seine Argumente, Ziele oder Visionen im Fokus der Aufmerksamkeit, sondern schlichtweg die möglichst laut- und meinungsstarke Artikulation von Gründen, warum sein geschildertes Szenario
Nicht wünschenswert ist.
Nicht realistisch ist.
Nicht realisierbar ist.
So bestand erstaunlicherweise weitgehende Einigkeit darüber, dass man eine „Verödung der Innenstädte“ keinesfalls zulassen dürfe, außerdem die aktuelle Entwicklung eine Modifikation des Konzepts Innenstadt übrigens doch gar nicht notwendig mache und erst recht nicht umzusetzen wäre. Es müssten schlichtweg wieder mehr Leute in die Innenstädte gehen und im lokalen Handel Geld ausgeben, die Innenstädte seien doch dafür schließlich sehr gut geeignet („Es war doch schon immer so!“). Zuletzt müsste für die Umsetzung einer mittel- bis langfristigen Strategie für die Umwidmung von Gewerbeimmobilien und Innenstadtflächen enorme Summen ausgegeben werden („Dieser Vorschlag ist völlig unrealistisch! Und realisierbar ist er erst recht nicht!“).
Warum sollte ein Pionier des Online-Handels nichts beitragen können?
Damit sind wir wieder bei den angesprochenen kognitiven Dissonanzen – und diese machen eine konstruktive-kritische Auseinandersetzung über mögliche wirtschaftliche wie auch gesellschaftliche Entwicklungswege nahezu unmöglich. Denn wer auf der einen Seite den Wandel von Zuständen, also letztlich Entwicklungen in ihrer sichtbarsten Form, verneint, hat etwas sehr Grundlegendes missverstanden. Hier zeigt sich die notwendige Differenzierung zwischen gesunder Skepsis und expliziter Verweigerung sehr deutlich. Und wer auf der anderen Seite implizit behauptet, dass die gegenwärtigen Zustände in all ihren Erscheinungsformen nicht das Ergebnis von zahlreichen Entwicklungen sind und es zudem auch noch enorme Investitionen gefordert hat, um diese Zustände überhaupt erst herzustellen, hat die Hintergründe der eigenen Lebensbedingungen zu wenig hinterfragt.
Auf die eine oder andere Weise ist der Verlauf der Debatte – egal ob man die Schlussfolgerungen Tarek Müllers für plausibel, realistisch oder wahrscheinlich hält – entlarvend. Er steht für eine weitverbreitete Haltung im privaten und unternehmerischen Kontext: Unreflektiert, aus Gewohnheit, teils auch aus Starrsinn oder mangelnder Fantasie heraus an einer Ordnung festzuhalten, die mit den realen Anforderungen nur schwerlich in Einklang zu bringen ist. Im Fokus der Aufmerksamkeit stehen dabei stets die Probleme und nicht deren Lösungen.
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